Erklärung zum Terroranschlag vom 7. Oktober
Erklärung des Landesverbands Berlin des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands zum Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober und israelbezogenem Antisemitismus in Deutschland
Der Landesverband Berlin des VGD sieht mit großer Sorge den Ausbruch und die Folgen von Gewalt in Israel und Nahost.
Er verurteilt die direkten und indirekten Solidaritätsbekundungen mit der Hamas, die seit dem terroristischen Angriff und Massaker der Hamas an israelischen Männern, Frauen und Kindern vom 7. Oktober auf deutschen Straßen und in den sozialen Medien erfolgen. Dies ist mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dem Grundgesetz und dem Berliner Schulgesetz nicht kompatibel und muss werte gebunden von allen in der Berliner Schule konsequent abgelehnt werden.
Zusammen mit den gegen jüdische Einrichtungen in Deutschland und anderswo verübten, versuchten oder noch beabsichtigten terroristischen Anschlägen macht dies in aller Deutlichkeit klar, was israelbezogener Antisemitismus ist.
Die politische Legitimierung der Hamas als Befreiungsorganisation – bspw. durch Präsident
Erdogan – übernimmt billigend deren Zielsetzung von der Auslöschung Israels und ist deshalb
mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates und unserem Staatsziel nicht kompatibel. Einer Gleichsetzung der israelischen Verteidigungsreaktion gegen die Hamas mit der Shoa muss daher werte gebunden und entschieden entgegengetreten werden: Dieses Narrativ muss als Hamas-Propaganda dekonstruiert werden. Der Legitimierungsdiskurs der Hamas banalisiert einerseits die historische Shoa und radikalisiert andererseits den heutigen Nahostkonflikt emotional so sehr, dass der Blick auf die Realität, eine rationale Auseinandersetzung darüber und eine friedliche Lösung des Konflikts gezielt behindert werden.
Für uns Lehrerinnen und Lehrer kommt es aber besonders auf eine vernunftgeleitete argumentative und faktenbasierte Auseinandersetzung an. Der schulische Bildungsbereich muss daher besonders durch die Senatsbildungsverwaltung uneingeschränkt unterstützt werden, in seinem Bemühen sich jetzt noch intensiver als bisher dieser Herausforderung stellen. Dies
kostet Zeit und Geld: Die Senatsbildungsverwaltung muss also umgehend vorschlagen, wie sie dies im Rahmen der historisch-politischen Bildung und der Fächer GESCHICHTE und PB realisieren möchte.
Seit Jahren wird Geschichtsunterricht in den Gymnasien gekürzt, in den ISS findet er genauso wie Politikunterricht in eigenständiger Form nicht mehr statt. Für eine Einwanderungsgesellschaft und unter den o.g. Gegebenheiten ist das fahrlässig. Wie sollen Schülerinnen und Schüler aus nicht-deutschen Herkunftszusammenhängen unsere Demokratie in politikdidaktischer Perspektive und in ihrer historischen Gewordenheit verstehen und ihre Werte akzeptieren, wenn es fachlich und pädagogisch viel zu geringe Stundenzahlen gibt? In der derzeitigen Struktur kann das Fach Gewi in der ISS diese Zielsetzung nicht erfüllen, weil politische Urteile ohne hinlängliche historische Fundierung nicht gebildet werden können. Berlin muss endlich das Experiment “Kontingentlösung” und das sog. “Integrationsfach” Gewi aufgeben und zum Fachunterricht zurückkehren: Im Gymnasium und in der ISS müssen die Fächer GESCHICHTE und PB als klar definierte Fächer unterrichtet werden, und zwar wie in NRW im Umfang von jeweils
2 Wochenstunden pro Fach. Nur die feste Zuschreibung von Stunden an die einzelnen Fächer für
alle Berliner Schulen garantiert für alle Berliner Schülerinnen und Schüler maximalen Bildungs- erfolg, größtmögliche Chancengleichheit, bestmögliche Bildung im Bereich der gesellschafts- wissenschaftlichen Fächer und insbesondere im Bereich des Fachs GESCHICHTE. In der jetzigen Situation (s.o.) ist dies zwingend notwendig, ein “Weiter so” wäre fahrlässig.
Notwendig dafür ist daher auch eine – unter den gegebenen und (s.o.) zu verändernden Rahmenbedingungen in der Berliner Schule – historische Aufarbeitung der Geschichte Israels und des Nahostkonflikts seit der Balfour-Erklärung und dem Sykes-Picot-Abkommen.
Diese historisch-politische Bildungsarbeit muss multiperspektivisch, kontrovers, differenziert, faktenbasiert und argumentativ geführt werden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass viele Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer migrantischen Sozialisation Diskurse vertreten oder unreflektiert mitbringen, die in Teilen oder offen antisemitisch und israelfeindlich sind. Hier müssen die Schülerinnen und Schüler dort abgeholt werden, wo sie stehen, es geht nicht um
„verdammen“ oder „verteufeln“ sondern um perspektivierte Aufklärung, sodass auch die extremistischen Diskurse der Hamas und der ultraorthodoxen Juden zur Sprache kommen müssen, um die Komplexität des Konflikts letztendlich aufklärerisch und im Sinne des Beutelsbacher Konsenses zu verstehen. Dies alles kostet sehr viel Zeit und wird ein langer Prozess werden.
Verstehen bedeutet aber nicht automatisch akzeptieren, Werturteile müssen mit dem Grundgesetz und dem Berliner Schulgesetz kompatibel sein, das müssen Lehrerinnen und Lehrer im Vorfeld immer wieder den Schülerinnen und Schülern erläutern. Diese wertemäßige Gültigkeit unseres Rechtsstaats ist religionsunabhängig.
Insgesamt muss der Nahostkonflikt im Sinne historisch-politischer Bildung immer kontextgebunden analysiert, gedeutet, dekonstruiert, beurteilt und bewertet werden. Urteile ohne Kenntnis der Sache wären Vorurteile, methodische Arrangements jenseits der Multiperspektivität wären Propaganda oder im unreflektierten Fall Verführung.
Im Sinne der Szenariotechnik müssen verschiedene Lösungs-Szenarien des Nahostkonflikts diskutiert werden: Geschichte ist immer offen, sodass Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben werden muss, aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus selbstkritisch und analytisch ein persönliches Lösungs-Szenario zu entwickeln, das mit den Prinzipien unseres Rechtsstaats kompatibel sein muss. Damit ist klar, Meinungsfreiheit ist unhintergehbar, aber sie ist in unserem Gemeinwesen nicht ungebunden, d.h., jeder Schüler, jede Schülerin muss verstehen, dass historisch-politische Urteile immer wertegebunden sind und dass diese Werte im Sinne des Grundgesetzes demokratische sein müssen. Jedem Extremismus muss daher von Lehrerinnen und Lehrern deutlich und konsequent entgegengetreten werden. Es muss klargemacht werden, dass extremistische Positionen von unserem Grundgesetz im Sinne der Meinungsfreiheit nicht legitimiert sind, genauso wenig wie terroristische Lösungs-Szenarien.
Da Schülerinnen und Schüler besonders in Berlin aufgrund vielfältiger migrantischer Einflüsse nicht nur durch ihre Familien, sondern auch durch die verschiedenen Communities – bei religiösen Bindungen durch ihre Imame oder Gemeinden – gebunden oder zumindest beeinflusst sind, sollten Berliner Schulen und auch die Senatsbildungsverwaltung vielfältige Kommunikationsangebote nutzen oder neu aufbauen, um über den Nahostkonflikt, der die Gemüter zur Zeit sehr erhitzt, auch außerhalb der Schule ins Gespräch zu kommen. Dabei muss das Ziel immer sein, den freiheitlichen Rahmen des Rechtsstaates vollständig auszuschöpfen und ihn gleichzeitig einzuhalten. Es gibt keine sog. „werteoffene“ Diskussionen. Sie sind konsequent zu unterbinden oder abzubrechen, denn unser demokratisches Wertesystem ist nicht verhandelbar.
Berlin, 1.11.2023
Landesverband Berlin des VGD e.V.
Lea Hagen (Landesvorsitzende) Dr. Peter Stolz (Stellvertretender Landesvorsitzender)